Buchtipp: Nico Walker – Cherry

Cherry von Nico Walker

Cherry von Nico Walker

„Cherries“, so werden im Militär-Slang die Jungen und Unerfahrenen, die Jungfrauen genannt. Als der namenlose Erzähler in Nico Walkers Debütroman rekrutiert wird, ist er so ein Cherry. Er ist aber auch Sohn, Student, Ehemann und später vor allem eins, ein krimineller Junkie. Dies wiederum verbindet den Cherry mit Walker, der momentan eine elfjährige Haftstrafe absitzt. Spannender kann man ein Buch wohl kaum promoten.

Strenggenommen ist Cherry also kein Roman und der Erzähler auch nicht namenlos, denn obwohl die Anmerkung des Autors noch mahnt, dass die Geschichte frei erfunden ist und die Menschen darin nie existiert haben, wird schnell klar, dass Walker hier seine eigene Lebensgeschichte niedergeschrieben hat. Hintergrund ist ein Buzzfeed-Artikel von 2013, der Walkers Abstieg vom etwas ziellosen Studenten zum Bankräuber nachzeichnet. Cherry hingegen beginnt mit dem vorläufigen Ende. Der Erzähler erlangt gerade das Bewusstsein nach einer Überdosis Heroin zurück und dies nur dank seiner Frau Emily, die ihm Eiswürfel in die Hose kippt. Der Tag geht seinen gewöhnlichen Gang, das Paar drückt noch etwas Stoff, dann wird Emily zur Uni gebracht und eine Bank überfallen, um den nächsten Schuss finanzieren zu können. In den folgenden sechs Teilen arbeitet Walker schonungslos auf, wie es überhaupt so weit kam und einen ganz erheblichen Anteil an seinem Niedergang, wie dann auch das letzte Kapitel heißt, hat die Army. Von 2005 bis 2006 ist Walker als Sanitäter im Irak stationiert und muss miterleben, wie Einheimische und Kameraden durch Sprengsätze zu undefinierbaren Massen werden und die Überlebenden das alltägliche Kriegsgrauen mit Pornos und Drogen betäuben. Als Walker zurückkehrt, wird er als Held gefeiert, fühlt sich aber als Verlierer. Er leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (der Buzzfeed-Artikel ergänzt, dass diese erst als bipolare Störung fehldiagnostiziert wird) die unbehandelt bleibt und rutscht schließlich von der Alkohol- in die Opiatsucht, die er nur noch mit Banküberfällen finanzieren kann.

Nico Walker ist kein Romancier, seine Sprache ist roh und die Kapitel kurz und aneinandergereiht wie die Maschinengewehrsalben und Anschläge, denen er immer wieder nur knapp entgeht. Die Dialoge sind kurz, die Beschreibungen sachlich, nichts wird beschönigt. Diese Verschmelzung von Form und Inhalt verleiht Cherry geradezu beklemmende Authentizität. Zwar kann man Walkers Handeln verurteilen, jedoch ist es schwierig, nicht mit ihm mitzufühlen. Obwohl das Buch als Zeugnis der Opioid-Krise angepriesen wird, wird durch Walkers Bericht klar, dass diese das direkte Resultat staatlichen Versagens und vor allem auch das der Army ist. Niemand interessiert sich für die hochtraumatisierten Rückkehrer, denn die Rückkehr selbst scheint schon mehr zu sein, als man von ihnen erwartet hat. Walkers Psychiater, der auf gerade mal zwei von 376 Seiten erwähnt wird, ist absolut desinteressiert an seinem Patienten und auch das andere soziale Umfeld, welches zum Ende hin sowieso nur noch aus anderen Junkies und Dealern besteht, scheint den zunehmenden körperlichen und geistigen Verfall willentlich zu ignorieren. Cherry ist ein wichtiges Buch, denn zum Schluss bleibt einem eben nicht jene Erleichterung, dass dies alles erfunden ist, im Gegenteil, man wird nur am Anfang angelogen: Alles ist wahr.

(Verlag: Heyne Hardcore)

Autorin: Annette Schimmelpfennig

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