Buchtipp: John Lanchester – Kapital

Seit ihrer Geburt lebt Petunia Howe in der Pepys Road. Hausnummer 42. Viel Zeit ist vergangen und die einfachen Wohnhäuser der Straße haben sich in heißbegehrte Prestigeobjekte der wohlhabenden Bevölkerungsschicht verwandelt. Es ist Ende 2007, Lehmann-Pleite und Finanzkrise noch nicht in Sicht und Petunia ist alleine. Ihr Ehemann ist verstorben, ihre Tochter lebt nicht mehr in London, Tesco bringt der 82-Jährigen die Lebensmittel mit dem Lieferwagen ins Haus und sie beobachtet die Welt durch ihre Spitzenvorhänge. Was hat eine solche Figur in einem Roman zu suchen, der sich die Ursachen und Folgen der Finanzkrise zum Thema gemacht hat? Einem Buch, das als großes Panorama der Krisenzeit gefeiert wird?

Zunächst einmal rein gar nichts. Genauso wie die Einrichtung ihrer Wohnung wirkt Petunia wie das vergessene Relikt einer überwundenen Zeit. Menschen wie Roger Yount passen da viel besser in die Londoner Pepys Road. Ein erfolgsverwöhnter Investmentbanker, der den siebenstelligen Jahresbonus schon als Selbstverständlichkeit ansieht. Nur blöd, wenn man ihn dann doch nicht bekommt.

Das Nebeneinanderstellen dieser gegensätzlichen Figuren ist das Kunststück des vierten Romans von John Lanchester. Mit journalistischer Genauigkeit durchstreift er die Häuser der fiktiven Londoner Straße. Dabei entdeckt er vermeintliche Gewinner wie den senegalesischen Fußballprofi Freddy Kamo, der vor dem Durchbruch in einem Premier-League-Verein steht. Oder den  polnischen Handwerker Zbigniew, der den Traum hat, gemeinsam mit seinem Vater in Warschau ein Unternehmen zur Wartung von Fahrstühlen zu eröffnen. Zusammen mit dem Erzähler folgen wir ihm in seine kleine Wohnung, die er sich mit fünf polnischen Freunden teilt und kontrollieren mit ihm den Kurs seiner Aktien, in die er sein gespartes Geld investiert hat.

Und auch wenn Kapital als multiperspektivischer Gesellschaftsroman angelegt ist, wird in solchen Momenten schließlich doch wieder klar, dass die anstehende Krise über allem schwebt und die Pläne der Figuren noch nachhaltig durcheinander bringen wird.

 (Text: Albert Henrichs, Verlag: Klett-Cotta)

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