Buchtipp: Hye-Young Pyun – Der Riss

Der Riss von Hye-young Pyun„Ein neues Leben musste erlernt werden“. Als Ogi nach einem von ihm verschuldeten Unfall im Krankenhaus aufwacht, existiert sein altes Leben nicht mehr. Seine Frau ist tot, er selbst schwer verletzt und es bleibt ihm nur seine Schwiegermutter, um sich um ihn zu kümmern und ihm Gesellschaft zu leisten. In Hye-Young Pyuns Roman Der Riss von 2016, der nun auf Deutsch erschienen ist, geht es um vor allem um Schuld und die Frage, wie tief ein Riss sein darf, bis man ihn nicht mehr kitten kann. Eine großartige und zugleich sonderbare Geschichte, die vor allem mit ihrer Darstellung subtiler zwischenmenschlicher Gemeinheiten überzeugt, ohne jemals in vorhersehbaren Horror abzudriften.

Nur langsam lernen wir den Protagonisten Ogi kennen. Informationen werden spärlich gesät, ein Stilmittel, dass effektiv sowohl den zu verarbeitenden Schock, als auch das Hadern mit den Erinnerungen verdeutlich. So erfahren wir, dass Ogi ein erfolgreicher Universitätsprofessor ist, seine Frau hingegen fehlten die Ambitionen, um sich ihren Traum von der Schriftstellerkarriere zu erfüllen, weshalb sie all ihre Energie in ihren Garten steckte. Ihre Mutter ist Ogis letzte lebende Angehörige und bereits im Krankenhaus sind viele überrascht, wie aufopferungsvoll sie ihren Schwiegersohn, der anfangs nur mit Blinzeln kommunizieren kann, pflegt. Als Ogi aus dem Krankenhaus entlassen wird, zieht sie mit ihm in das Haus, dass er früher gemeinsam mit seiner Frau bewohnte. Ogi hofft, dass er sich dort erholen kann, aber die Vergangenheit holt ihn schnell ein und auch seine Schwiegermutter hat andere Pläne für seine Zukunft.

Pyuns Stil wird häufig als kafkaesk umschrieben und ein bisschen erinnert einen Ogi wie er in seinem Bett dahinvegetiert, entstellt und unbeweglich, an Gregor Samsa aus der Verwandlung. Seine Schwiegermutter hingegen ähnelt in ihrem zunehmend diabolischen Auftreten Annie, der besessenen Krankenschwester in Stephen Kings Misery. Was die Eleganz der Sprache und auch die Art der Exposition angeht, lässt sich Pyuns Fiktion am ehesten mit der ihrer südkoreanischen Landsmännin Han Kang beschreiben, die ähnlich präzise Beziehungen seziert und sich intensiv mit menschlichen Abgründen beschäftigt. Interessant ist auch, dass man sich bei der Übersetzung der englischen Version für „Das Loch“ als Titel entschieden hat, ein Konzept, das durchaus auch eine wichtige Rolle innerhalb der Handlung spielt, jedoch der Geschichte viel von der metaphorischen Wirkung des Risses nimmt, der sich in mehrfacher Hinsicht durch Ogis Leben zieht. Was Pyun besonders gut gelingt, ist mit den Emotionen des Lesers dem Protagonisten gegenüber zu spielen. Ohne zu viel zu verraten, das anfängliche Mitleid, dass man für Obi empfindet, hält nicht bis zum Ende an. Die Lust auf mehr Texte von Hye-Young Pyun hingegen schon.

(Verlag: btb)

Autorin: Annette Schimmelpfennig

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