Buchtipp: Fritz J. Raddatz – Tagebücher 2002-2012

raddatz„Den Roman Raddatz liest man im Rausch, Hunderte Seiten in ein paar Tagen, so gierig, wie Raddatz gelebt hat“, attestierte Rainald Goetz vor drei Jahren im SPIEGEL. Der „Roman Raddatz“, das sind die Tagebücher des ehemaligen Rowohlt-Cheflektors und späteren Feuilletonchefs der Wochenzeitung DIE ZEIT. Nun ist endlich der zweite Band erschienen: das Warten der Raddatz-Kenner hat ein Ende.

Im ersten Band des Raddatz’schen Gesellschaftsromans sind die Jahre 1982-2001 dokumentiert. Sein Personal ist die Intellektuellenszene Deutschlands: Helmut Schmidt, Hans Magnus Enzensberger, Rudolf Augstein, Rolf Hochhuth usf.  Über einen Besuch bei Günter Grass schreibt er: „Die ‚Haushaltsführung‘ dort grotesk, Ute lieb, aber keine aufmerksame Gastgeberin, kein Soda im Haus und kein Aschenbecher – respektive ein überquellender – auf dem Tisch, man sitzt in der Küche, ein Sohn schmeißt erst mal den herrlichen Orchideentopf  um, den ich mitbrachte […].“ Kleine szenische Miniaturen, die in stilistischer Brillanz beim Leser für Suchtpotential sorgen.

Raddatz geht schonungslos mit seinen Bekannten ins Gericht. Je boshafter Raddatz Schilderungen, desto größer das Lesevergnügen. Eine „Begegnung ferner Sterne, resp. Nicht Begegnung“ beschreibt Raddatz am 1. Oktober 2005 in Paris, als er Benjamin von Stuckrad-Barre trifft, der ihn für eine Zeitschrift portraitieren soll und zunächst die Treffen mit dem „45 Jahre Älteren“ verschläft. Er zeigt ihm die Stadt, doch eine „erste Kastanie des Jahres“ interessiert Stuckrad-Barre mehr als jeder Kunst-Hinweis von Raddatz. „Der Mann ist ja ganz nett, keineswegs unsympathisch, in Maßen aufmerksam à la ‚Ich helfe Ihnen in den Mantel‘. Aber wie will er mich beschreiben, wenn meine Welt ihm ein Buch mit 7 Siegeln ist? […] Der Mann ißt gerne Austern. Aber er ist eine Auster ohne Perle.“

Man könnte Fritz J. Raddatz Verachtung vorwerfen, „Verachtung der Welt, in der das Ich gerade tätig ist, Verachtung insgesamt der jeweiligen Gegenwart, Verachtung aller anderen Menschen, mit denen Kontakt besteht, und eine allertiefste, unstillbare Selbstverachtung dieses Ichs“, wie Rainald Goetz es im Spiegel getan hat. Raddatz selbst weist den Vorwurf des „hurtigen Bürschleins“ in seinen Tagebüchern von sich: Thomas Brasch und Ledig: verachtet? Kempowski und Mary Tucholsky: verachtet? Plattschek, Fichte, Grass: verachtet? (Allenfalls glossiert; aber den Unterschied kennt der Blogger evident nicht.)“

„Mehr, mehr, mehr davon!“ schreibt Arno Widmann über den ersten Band, nun endlich also erscheinen die Tagebücher aus den Jahren 2002-2012, der große „Roman Raddatz“ hat eine Fortsetzung. Man sollte sie nicht verpassen.

(Text: Maximilian Burk, Verlag: Rowohlt)

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