National Book Award, Pulitzer, Booker Prize. Colson Whitehead ist Harvard-Absolvent, wird im November erst 50 Jahre alt, sein letztes Werk Underground Railroad wird gerade von Amazon fürs Fernsehen adaptiert und trotzdem ist er hierzulande noch relativ unbekannt. Dies sollte sich schleunigst ändern, denn Whitehead ist nicht nur einer der vielseitigsten Autoren (einer seiner bisher größten Erfolge ist der Zombie-Roman Zone One), sondern auch einer der immer wieder seinen Finger in eine der größten Wunden der Vereinigten Staaten, den anhaltenden Rassismus vor allem gegenüber der schwarzen Bevölkerung, legt. Während sich Railroad mit der Flucht der Schwarzen aus der Sklaverei beschäftigte, widmet sich Whitehead nun erneut einer wahren Begebenheit aus gar nicht allzu weit zurückliegender afro-amerikanischer Geschichte. Wem die Zombies in Zone One zu grausam waren, der muss erneut feststellen, dass das, was Menschen einander antun, noch wesentlich grauenhafter ist, als all das, was Fiktion erdenken kann.
Die Nickel Boys klingt, nicht unabsichtlich, nach einer unbeschwerten Jungentruppe, allerdings bezeichnet der Name die noch minderjährigen Insassen einer notorischen Besserungsanstalt in Florida. Einer von ihnen ist Elwood, ein smarter Junge, der Anfang der 60er bei seiner Großmutter aufwächst und eigentlich nur wie seine weißen Zeitgenossen von einem freien Leben und einer selbstbestimmten Karriere träumt. Doch es ist die Zeit der Rassentrennung und während einer Polizeikontrolle wird Elwood irrtümlicherweise festgenommen und in die Nickel Academy geschickt, wo er brutal misshandelt und gefoltert wird. Er freundet sich mit Turner an, der wie er völlig grundlos im Nickel gelandet ist, und beide versuchen auf ganz unterschiedliche Weise, mit ihrem Schicksal umzugehen.
Elwoods Erlebnisse gehen einem beim Lesen an die Nieren und das ist auch gut so. Während er anfangs in (vermeintlicher) Freiheit noch fest an Martin Luther Kings Predigten glaubt, verliert er im Nickel zunehmend den Glauben an sein Idol, was ihn im Angesicht des Grauens das er erlebt nur noch authentischer macht. Whitehead schafft keinen unermüdlichen Helden, sondern er zeigt alle Facetten von (Un-)Menschlichkeit auf, auf allen Seiten. Seine erzählerische Leichtigkeit steht dabei die Schwere des Themas gegenüber, was jedoch kein Widerspruch ist, denn Schwerz muss nicht komplex sein, um verstanden zu werden. Colson Whitehead ist genau der richtige Erzähler für die heutige Zeit. Bitte mehr davon.
(Verlag: Hanser)
Autorin: Annette Schimmelpfennig